Neugier statt Blaupause – Warum Pläne in unsicheren Zeiten versagen
Hier erfahren Sie,
- warum die klassische Planung in komplexen Umgebungen an ihre Grenzen stösst.
- welche Alternativen es dazu gibt.
- wie Sie mit diesen Alternativen erste Erfahrungen sammeln können.
Haben Sie Ihren Lebenspartner mit einer Nutzwertanalyse ausgesucht? Haben Sie für Ihre Beziehung ein Leitbild an der Pinnwand hängen? Oder führen Sie mit Ihrem Partner ein jährliches strukturiertes Beurteilungsgespräch durch?
Wohl eher nicht.
Viele wesentliche “LebensProjekte” liefen recht gut ohne Plan. Schauen Sie sich heute Lebensläufe an – das sieht meist nicht nach einem durchdachten Plan aus. Wir waren am richtigen Zeitpunkt mit den richtigen Menschen am richtigen Ort und haben uns darauf eingelassen, was passiert. Nennen Sie es Zufall oder Glück – wir nennen es “Experiment”.
Diesen Artikel gibt es auch als Podcast…
Experimente – nicht Pläne – machen uns Menschen aus. Besteht nicht das ganze Leben aus nie endenden Episoden des Ausprobierens.
Natürlich machen wir uns zuvor Gedanken, bevor wir ein neues Experiment starten. Wir machen uns schlau, sammeln Informationen über das Thema, bilden Hypothesen und malen uns im Kopf aus, wie es optimalerweise laufen sollte. Aber dann… legen wir los und schauen was passiert.
Momentan trage ich mich ernsthaft mit dem Gedanken ein Elektroauto zu kaufen. Natürlich informiere ich mich, schaue mir Unmengen von Youtube-Videos an, lese Testberichte, mache mir Gedanken darüber wie und wo ich die Ladestation installiere, aber irgendwann muss ich mich entscheiden. Nie werde ich alle Informationen über dieses Thema wissen. Meine Hypothese lautet: “Ich schaffe es, mit einem E-Auto, meinen Job als Berater und Trainer genauso wahrzunehmen, wie mit einem Verbrenner.”
Und diese Hypothese werde ich 2020 gegen die Realität testen und schauen, ob sie funktioniert. Das Ende ist offen und ungewiss – eben ein Experiment.
Experimente funktionieren in der Wissenschaft – warum (noch)nicht im Management
Dass Experimente in den Naturwissenschaft ein absolut probates Mittel sind, um Hypothesen zu prüfen, wird niemand abstreiten. Ja, ich würde sogar sagen, dass Experimente mächtige Katalysatoren für jeden Fortschritt waren und sind.
Wo wären wir heute wenn z.B. Ignaz Semmelweis in den späten 1840er Jahren nicht die Hypothese aufgestellt hätte, dass das damals grassierende Kindbettfieber seine Ursache darin hatte, dass Ärzte und Medizinstudenten unwissentlich die schwangeren Frauen mit “Leichengift” infiziert hatten, da sie oft direkt nach einer Autopsie Geburtshilfe leisteten.
Umso überraschender scheint es, dass in der Unternehmensführung das Werkzeug “Experiment” so gut wie gar nicht genutzt wird. Weder in der Managementausbildung noch in der Managementpraxis ist das ergebnisoffene Ausprobieren angesagt. Ja es scheint sogar so zu sein, dass “Experimentieren” im Führungskontext negativ belegt ist, als unprofessionell gilt und bedeuten würde unkalkulierbare Risiken einzugehen oder schlicht Wissenslücken einzugestehen.
In der Führung gilt es für wirtschaftlichen Erfolg zu sorgen, Stabilität und Kontinuität zu gewährleisten und unangenehme Überraschungen zu vermeiden. Das Mittel zur Wahl heißt: Plan – wir extrapolieren historische Daten (z.B. die Umsatzzahlen des letzten Jahres) und prognostizieren damit zukünftige Entwicklungen – gerade so, als ob wir die Ungewissheit der Zukunft damit in den Griff bekämen, indem wir sie schlicht ignorieren.
Wenn Sie nun den Eindruck haben, ich würde jegliches Planen verteufeln und riefe hier zu einem lustvoll-waghalsigen Laborieren á la “Unternehmen forscht!” auf, dann schütten Sie das Bade mit dem Kinde aus.
Planen macht (nach wie vor) Sinn – in komplizierten Umgebungen
Planen macht immer dann Sinn, wenn wir uns in einem kalkulierbaren und bekannten Kontext bewegen. Die Dimensionierung eines Doppel-T-Träger in einem Brückenbauwerk ist genauso planbar wie die Nietverbindungen der Tragflächen in einem Verkehrsflugzeug.
Die Terminierung der Umsatzsteuervorauszahlungen ähnlich gut, wie die Wärmedurchlasswerte einer Wand. All diese Kontexte mögen kompliziert sein, aber nicht komplex.
Und … bis vor wenigen Jahrzehnten waren auch die Kontexte in denen sich Unternehmen bewegt haben – relativ stabil und damit weitgehend kalkulier- und planbar.
Und auch heute gibt es noch Unternehmensbereiche (z.B. Buchhaltung) die diesen Parametern genügen. Lassen Sie uns hier auch weiterhin auf bewährte Planungsmethoden zurückgreifen.
Aber… in dem Maße, in dem sich Unternehmen oder Teile davon (Marketing, Vertrieb, Forschung etc.) in immer komplexeren Gefilden bewegen, stößt Planung an ihre Grenzen.
Planen verhindert Handeln
Jaime Lerner, der ehemalige Bürgermeister der brasilianischen Metropole Curitiba meinte:
“Plant nicht zu lange! Wer lange und ausgiebig plant, findet gute Gründe, etwas nicht zu tun. Innovation heißt aber anfangen.”
Jaime Lerner
Der Mann weiß, wovon er spricht. Er war die treibende Kraft, Curitiba binnen weniger Jahrzehnte von einer Problemstadt im brasilianischen Hinterland zu einer Muster-Metropole zu entwickeln.
Sein Motto: “Wenn du etwas verändern willst, musst du anfangen.”
Und zwar so schnell, dass Bedenkenträger und notorische Nein-Sager einfach nicht mehr hinterherkommen: Curitiba baute das Opernhaus in zwei Monaten und die Fußgängerzone in 72 Stunden.
Wer etwas ändern will, muss Tatsachen schaffen.”
Jaime Lerner
Wenn aber die Unternehmensführung, den notwendigen wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr durch Pläne sicherstellen kann, da Plan und Realität immer schneller auseinanderklaffen, brauchen wir eine Alternative: Die Sicherheit des Experiments.
Die neue Sicherheit des Experiments
Das Ziel wäre, im Unternehmen eine Experimentier-Haltung zu installieren und damit eine Sicherheit besser mit einer ungewissen Zukunft zurecht zu kommen.
Das gelingt jedoch nicht durch einen gut gemeinten Appell von oben ”Jetzt experimentiert doch mehr!”. Eine neue Haltung entsteht durch neue Erfahrungen, die Mitarbeitende machen können – durch konkrete Experimente.
Fassen wir zusammen: Die Zukunft ist ungewiss und unser Umfeld komplex. Daher ersetzen wir detaillierte Planung durch Experimente. Diese Experimentierhaltung kann allerdings nicht von oben durch Appelle installiert werden. Vielmehr gilt es einen Schutzraum zu schaffen in dem Erfahrungen mit Experimenten gemacht werden können.
Beginnen Sie!
Beginnen Sie noch heute und designen Sie ein erstes Experiment.
Sie können unmöglich scheitern, denn jedes Experiment führt zwangsläufig zu einer Erkenntnis – im besten Fall, dass Ihre Hypothese richtig war im anderen Falle, dass sei falsch war. Schlauer sind Sie allemal.
Jedem Experiment geht eine Hypothese voraus, also eine konkrete Vermutung, was getan werden könnte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Beispiele:
- Hypothese 1: “Auch wenn wir auf Zeiterfassung verzichten, werden die Mitarbeitenden ihren bestmöglichsten Beitrag zur Wertschöpfung leisten – ohne sich zu überfordern.”
- Hypothese 2: “Mit abnehmendem Arbeitsdruck steigt die Qualität der Arbeit und die persönliche Arbeitszufriedenheit.”
- Hypothese 3: “Wenn ich meine Mitarbeitenden aussuchen lasse, welche Fort- und Weiterbildungen ich im nächsten Jahr besuchen soll, bekomme ich dadurch ein ungeschminktes Feedback auf meine Qualität als Führungskraft.”
Puhhh, werden Sie vielleicht sagen, “.. ganz schön dicke Bretter, die hier gebohrt werden.”
… und wenn das schief geht?!
Beginnen Sie mit kleinen Experimenten!
Starten Sie kein Experiment, ohne vorher eine klare konkrete Hypothese formuliert zu haben.
Machen sich sich den “maximal-leistbaren-Verlust” des Experiments deutlich, d.h. überlegen Sie was ist der denkbare worst-case, wenn sich meine Hypothese als falsch herausstellt.
Widerstehen Sie dem Gedanken, dass ein Experiment nur ein “Plan 4.0” ist, d.h. dass Sie vorhersehen könnten, was passiert – Experimente sind naturgemäßr immer ergebnisoffen – aber eben kein Russisch-Roulette.
Zur Verdeutlichung hier noch ein konkretes Beispiel aus meiner Beratungspraxis:
In der Produktion einer großen Bäckerei (60 Mitarbeitende) melden sich immer einmal wieder – auch kurz vor Schichtbeginn – Leute krank. Die Krankmeldungen schagen beim Produktionsleiter auf, der dann die Aufgabe hat, dafür zu sorgen, dass schnell Ersatz gefunden wird. Meist ruft er dann Kollegen an, die gerade ihren freien Tag hatten und “bittet” diese ausnahmsweise einzuspringen. Das führt zu Unmut und der Produktionsleiter wird zunehmend zum “Buhmann.”
Hypothese: “Wenn ein oder zwei Kollegen in einer Schicht ausfallen, dann bedeutet das für jeden in dieser Schicht maximal 15 min Mehrarbeit. Wir glauben, dass dies die Mitarbeitenden einer Schicht sehr gut selbst organisieren können. Und der freie Tag ist für die Dauer des Experiments “heilig und unantastbar.”
Der Produktionsleiter hat diese Hypothese seinem Team unterbreitet. Die Resonanz war unterschiedlich – von “Das klappt doch nie” bis “Das schaffen wir.”. Aber alle haben sich darauf vereinbart, dieses Experiment 12 Wochen laufen zu lassen.
Wie dieses Experiment ausgegangen ist? Es läuft noch. Ich werde berichten.
Zusammenfassung:
- Planung stößt in komplexen Umgebungen (immer wenn Menschen im Spiel sind, wird es komplex) an ihre Grenzen.
- Eine Alternative zur klassischen Planung: Das Experiment.
- Experimente sind wohldurchdachte, aber ergebnisoffene Vorhaben – kein Russisch Roulette.
- Experimente haben die Aufgabe, zuvor konkret formulierte Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen.
- Damit können Experimente nicht scheitern – danach ist man immer schlauer.
- Verankern Sie zunehmend eine Experimentier-Kultur in Ihrer Organisation
- Beginnen Sie bei sich selbst in Ihrem Bereich.
- Stellen Sie eine konkrete Hypothese auf, mit der Sie bestehende Praktiken in Frage stellen.
- Fragen Sie sich: Kann ich den “maximal-leistbaren Verlust” tragen, wenn sich die These als falsch herausstellt? Falls Ja?
- Starten Sie Ihr erstes Experiment!
Quellen:
Literatur:
- Wüthrich, Osmetz, Kaduk – Musterbrecher: Führung neu leben, ISBN-10: 3834910317
- Wohland, Wiemeyer: Warum dynamikrobuste Unternehmen Marktdruck erzeugen, ISBN-10: 3934900119
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